Unterm Eis
Ich sitze auf meiner Terrasse. Im Steingarten oben auf der Moräne an der Ostseite des Ammersees. Um mich herum Sukkulenten und zarte Blumen, die jedem Wetter trotzen – Hitze, Kälte, Sturm und Hagel. Eine weite Fläche aus Kieselsteinen bedeckt den Boden.
Mein Blick geht nach Westen hinunter zum See. Es ist Sommer, schon senkt sich die Abendsonne, nähert sich der Oberfläche des Sees, will ihn mit ihrer großen Kugel aussaugen. Nur ein kleines Fleckchen Wasseroberfläche ist sichtbar; alles andere ist von Bäumen und Häusern verdeckt.
Ich schaue zu den großen Steinen im Garten – Kalkstein aus der Region – und stelle mir vor, wie sie Teil eines gewaltigen Berges waren, genauer Teil eines Korallenriffs in Nordafrika, das in den letzten 20 Millionen Jahren hierher gewandert ist. Vor meinem Auge liegt das Riff, liegen die schillernden Korallen, die Millionen von Fischen, wie sie durch die im Wasser wiegenden Pflanzen schwimmen und eine hochkomplexe Symbiose von Leben bilden. Wie bunt und vielfältig, wie reich an Farben und Formen diese Unterwasserwelt ist! Ein Tang-Fisch gleitet mit seinem zitronengelben, gerieften Körper und seinem hellgrünen Schwanz gemächlich an mir vorüber.
Heute liegen die Korallen als Steine hier. Ich grabe meine nackten Füße in die von der Nachmittagssonne aufgeheizten Kiesel – ebenso entstanden aus Korallen, die von den Gletschern gebrochen und rundgeschliffen wurden. Es fühlt sich gut an, unmittelbar mit den Elementen verbunden zu sein, die von einer fernen Vergangenheit erzählen.
Ich liebe diesen Platz, er wirkt wie ein heiliger Ort, mystisch, kraftvoll, majestätisch. Es geht ein leichter Wind. Eine Waldtaube fliegt mitten durch den Ball der Abendsonne und nimmt hoch über mir Platz auf einer Eiche. Sie lebt dort. Die Eiche ist der höchste Baum in der Umgebung. Ihr mächtiger Stamm bildet eine Einheit mit kraftvollem Efeu, das sich bis in die Krone hinaufzieht. Wie alt mag sie sein? Ich denke, das sind sicherlich mehr als 200 Jahre. Zeitgleich mit ihrem Heranwachsen legte der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches seine Krone nieder, eroberte Napoleon Europa und schrieben die Brüder Grimm die deutschen Märchen auf.
Gab es damals hier schon Häuser? Wahrscheinlich stand an diesem magischen Ort noch dichter Wald, der bis hinunter zum See reichte und lediglich Rehen und Füchsen Schutz bot.
Hinter mir höre ich ein knirschendes Geräusch, wie wenn Eisen durch Sand schleift. Ich blicke mich um. Der Hang geht noch ein gutes Stück weiter hinauf und bis vor wenigen Monaten war dort Wald aus Buchen und Ahornbäumen. Wie meine Eiche mehr als 200 Jahre alt, nur mit dem Unterschied, dass Forstarbeiter mit ihren knatternden Kettensägen den ehrwürdigen Bäumen ihren Todesstoß versetzt haben. Es sollte Platz entstehen für mehrere Häuser. Hätte man nicht anders bauen können, neuen Wohnraum mit der Kraft des Bodens und den Erzählungen alter Bäume verbinden?
Die Ortschaft hat sich vergrößert, neuer Bedarf an Wohnungen und Häusern ist entstanden. Werden die Vögel im nächsten Jahr wieder bei uns nisten oder für immer fortziehen? Ich nehme mir vor, ihnen neue Nistplätze zu bauen. Vielleicht bleiben sie da. Und werden all die Menschen, die hier einziehen, die Majestät der Natur an diesem Ort spüren und würdigen? Oder sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich ihre neuen Behausungen zu erarbeiten?
Das knirschende Geräusch stammt von einem Bagger, der den Keller für ein weiteres Gebäude aushebt. Er gräbt sich tiefer und tiefer in den Boden. Nur ein kleiner oberer Bereich ist Erde, Erde aus dem Laub der Bäume, aus den Gräsern und Blumen. Darunter Sand und Kies, die viel älter sind als die 200-jährige Eiche. Was können sie uns erzählen? Meine Gedanken machen erneut eine Zeitreise, diesmal etwas weiter zurück. Als Sand und Kies hier ankamen, war alles voller Eis von dem Gletscher, der von den Alpen Richtung München floss, der Steine und Felsen unter seiner Last zermalmte und zerrieb, sodass nur noch diese feine Masse an Sand und Kieseln übrigblieb.
Ich sehe die Bilder des mächtigen Eismassivs, keine Eiche, keine Taube und auch keinen See. Nur Eis, Eis, Eis, soweit der Blick reicht, bis es am Horizont unter der Erdkrümmung verschwindet. Wie weit über mir mag es damals gestanden haben? Ich erinnere mich an meine Schulzeit: Der Gletscher war mehr als 300 Meter hoch, auch das heutige Andechs mit seinem Kloster lag noch unter ihm begraben. Und mit ihrem gewaltigen Gewicht haben die Eismassen auch den Ammersee in den Boden gedrückt. Unvorstellbar, denke ich, was erdgeologisch erst gerade vor kurzer Zeit stattgefunden hat: Solche Gletscher habe ich gesehen, als ich in der Arktis war. Und heute lese ich in den Zeitungen, wie stark dort das Eis schmilzt, dass die Eisberge vergehen und wohl bald verschwunden sind.
Es stimmt mich traurig, wenn ich miterleben muss, wie wir unseren Planeten verbrennen. Wird sich die Natur, wird sich die Erde wehren können?
Aber die uns Gebärende, Gaia, ist noch jung und hat schon viele Krisen überstanden. So auch die gewaltige sibirische Vulkankatastrophe vor 250 Millionen Jahren, die ein Massensterben durch ihr Gift und die Treibhausgase auslöste und nahezu das gesamte Leben auslöschte. Dieser Vulkanausbruch gilt als der größte in der Geschichte der Erde. Die Lava und schädlichen Gase brachen nicht durch die Mündung des Vulkans, sondern gelangten durch zahlreiche Risse im Boden an die Erdoberfläche, und das flüssige Gestein bedeckte eine Fläche so groß wie Westeuropa. Mehrere Hunderttausend Jahre dauerte der Prozess.
Gaia ist stark und denkt in anderen Zeiträumen, hat ein gutes Immunsystem. Sie wird auch die Menschheit überstehen, die sich vielleicht selbst besinnen und erwachsen werden wird. Noch befindet sich die Menschheit im Kindesalter oder gerade mal in der Pubertät und wird das Haus, in dem sie aufwächst, schützen und bewahren, sobald ihr wirklich bewusst wird, was ihre sinnlose Zerstörungswut, ihr Vandalismus anrichten. Nicht der Mensch muss sich die Erde untertan machen, sondern Gaia den Menschen. Sie wird es schaffen.