Keine zehn Denar

Clara fragt Herbert: „Gehst du mit mir runter zum See auf den Markt? Wir könnten dort etwas rumbummeln und treffen sicherlich ein paar Freunde. Vielleicht finden wir auch was Schönes? Ich verkleide mich als Magd aus dem Mittelalter, die Obst und Gemüse verkauft.“ Und sie fügt hinzu: „Das passt doch zum Markt und zu deinen Themen.“

Herbert ist Professor für internationalen Handel, seine Lieblingsgebiete sind dessen ethische Komponenten und die historischen Handelswege. Er ist im Kuratorium einer internationalen Fairtrade-Organisation und äußert sich in seinen Publikationen kritisch zum Welthandel, was ihm einen guten Ruf, aber auch harsche Kritik aus der Wirtschaft eingebracht hat. Der Markt an der Herrschinger Promenade des Ammersees findet dieses Jahr schon zur Faschingszeit statt. Das Wetter ist sonnig und warm, zwischen den Ständen und Zelten mit bunten Tüchern, Bildern und Skulpturen oder auch nur Gartengrills tummeln sich viele Besucher in Verkleidung.

Clara liebt solche Märkte, Herbert eher nicht. Zögerlich antwortet er: „Ja … ich komm schon mit.“ Er kann nicht verbergen, dass er eigentlich nicht möchte und nur zusagt, um ihr einen Gefallen zu tun. Um etwas Zeit zu gewinnen, fragt er: „Wann willst du gehen, ich möchte noch etwas an meinem Manuskript feilen, nächste Woche muss es zum Verlag. Ich habe gerade ein paar wichtige Gedanken im Kopf.“

Clara schmunzelt – sie kennt ihn und weiß, dass er jetzt lieber am Schreibtisch sitzen würde – und versucht, ihm das Mitkommen schmackhaft zu machen: „Du hast doch diesen schönen Wams im burgundisch-königlichen Stil mit der knielangen Pluderhose. Er wurde dir kürzlich nach einem Vortrag überreicht. An meiner Seite ein fescher mittelalterlicher Kaufmann, das würde mir Spaß machen!“

Bingo! Das war es. Das Interesse von Herbert ist geweckt, der sich nur allzu gern mal in einen ehrwürdigen Patrizier verwandeln würde: „Gute Idee, das machen wir! Vielleicht kommen mir auf dem Markt ja noch ein paar Ideen für das Manuskript. Ich schreibe gerade über den Handelsweg über den Brenner nach Augsburg noch aus römischer Zeit. Der ging an der Westseite des Ammersees vorbei und es gibt einen Seitenweg zwischen Starnberger- und Ammersee, der zur Donau führt. Sicherlich haben die Händler hier haltgemacht, um ihre Vorräte mit Fisch aufzufüllen.“

Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu, nun schon ganz in der Vergangenheit: „Vielleicht sehe ich ein paar Sachen, wie sie früher gehandelt wurden. Seidentücher aus Indien, kunstvolles Schnitzwerk aus Afrika. Solche Dinge wurden damals von einem italienischen Hafen direkt hierher geliefert. Natürlich sind das heute nur einfache Nachbildungen …“

„Schön, dass du mitkommst. Gehen wir in einer Stunde?“, antwortet Clara erfreut. Herbert nickt.

Herbert hat alles, was er noch schreiben wollte, zu Papier gebracht und holt seine Patrizierkleidung aus dem Schrank. Er zwängt sich eher unbeholfen in den Wams und Clara hilft ihm dabei, Pluderhose und Oberteil mit einem Nestelband zu verbinden.

Der Markt ist gut besucht. Die Leute flanieren zwischen den einzelnen Ständen und stöbern in den liebevoll dargebotenen Waren. Es weht eine leichte Brise. So sah der Handel schon vor Urzeiten aus, das wissen wir durch Pompeji oder Ostia, denkt Herbert. Er schaut weniger auf das Dargebotene als auf die Menschen, wie unterschiedlich sie sich während der Faschingszeit präsentieren und wie kreativ, ja kunstvoll gekleidet sie sind. Auch er erregt mit seiner aristokratischen Kleidung einiges Aufsehen. Herbert gefällt das.

„Schau, Herbert, wie findest du die Farben?“ Clara zeigt auf ein paar bunte Tücher, die sich leicht im Wind wiegen. „Ja, Clara, sehr schön. Mit ihren fantasievollen Mustern und Farbtönen stammen sie sicher aus Indien. Früher wurden solche Tücher wertvoll produziert und mit dem Schiff transportiert, heute kommen sie eher als minderwertige Massenware mit dem Flugzeug“, meint Herbert, während Clara begeistert herumstöbert. „So eine große Auswahl! Schau dir bloß dieses blaue Pfauenfedermandala an, das wäre doch was fürs Schlafzimmer. An dem Stand brauche ich sicher noch eine Weile!“

Herbert hängt noch immer in Gedanken an seiner Arbeit und diese leuchtenden indischen Stoffe versetzen ihn fast in eine Art Trance. Wie stark war der internationale Handel im 15. und 16. Jahrhundert durch solch exquisite Tuchware angestiegen und wie hatte vor allem Venedig davon profitiert. Daraus war großer Reichtum entstanden, der durch Handelsfamilien wie die Medici in Geld und Bankgeschäfte floss, aber auch in großartige Kunst. Der Handel hat den Schiffbau erst so richtig befeuert. Es entstanden neue Häfen und viele Dienstleistungen rund um die ankommenden Waren.

Durch die im Wind flatternden Tücher kann Herbert bis auf den Ammersee blicken und plötzlich gleiten seine Gedanken zu einem Hafen am Meer. Erinnerungen an seinen letzten Venedig-Aufenthalt kommen hoch und er stellt sich vor, wie beim Markusplatz gerade ein Handelsschiff aus Asien anlandet.

*

„Was steht ihr rum, hier gibt’s nichts zu gaffen, verschwindet, sonst kommt ihr in den Kerker und wir werden euch alle auspeitschen. Macht den Weg frei!“, schreit ein kräftiger Mann, dessen Gesicht und Hals mit einer Barbuta, einem Helm in Y-Form mit Nasenflügeln, bedeckt und geschützt ist. Er ist offenbar der Anführer einer größeren Gruppe von Bewaffneten. Seine mächtige Peitsche knallt furchteinflößend. Hinter ihm drängen sich seine Waffenknechte, die zur Abschreckung ihre Schwerter offen tragen.

Er wendet sich Herbert zu: „Das gilt auch für Euch! Wer seid Ihr, Fremder?! Ihr seid edel gekleidet …“ – „Ich bin Händler aus der Freien Reichsstadt Augsburg und möchte feine Tuchware kaufen. Ich bin hier mit zwölf Pferden und drei großen Planwagen.“ Nach einer kurzen Pause fügt Herbert hinzu: „Ich habe Gold. Meine Kunden sind von edlem Stand und zahlen gut für die Stoffe aus fernen Ländern.“

„Sprecht weiter, Fremder!“, fordert der Anführer ihn auf. Herbert deutet auf die befestigte Hafenmole: „Was ist das für ein Schiff dort hinten? Ich habe gehört, dass dieser Tage ein großes Frachtschiff aus Indien erwartet wird.“

„Ja, Ihr habt recht, Fremder. Hier kommt der große Entdecker und Abenteurer Vasco da Gama höchstpersönlich angesegelt!“, sagt der Peitschenschwinger mit geschwellter Brust, um seine Bedeutung herauszustellen. „Wir sichern alles ab, damit der Weg zu den Fuhrwerken frei ist. Die Ladung mit Seidentüchern und Gewürzen wird dorthin geliefert, wo Ihr herkommt.“ Und etwas besorgt raunt er mit vorgehaltener Stimme: „Aber Fremder, wenn Ihr so viel Gold mit Euch führt, solltet Ihr Euch besser schützen. Dieses Gesindel ist nur dazu da, solch edlen Männern wie Euch ihren Reichtum abzunehmen.“

Der Anführer entdeckt eine Gruppe von nachlässig gekleideten Männern und schreit: „Hey, ihr da, was lungert ihr noch rum, verschwindet!“ Seine Peitsche knallt in die Luft. Dann wendet er sich wieder Herbert zu und sagt mit ruhiger Stimme: „Schaut, Fremder, jetzt kommen sie! Tretet etwas zurück, damit Ihr sie besser sehen könnt.“

„Aaahh, wie freue ich mich, das erleben zu dürfen. So viele Seeleute, die dem stattlichen Mann mit dem langen Vollbart und dem runden, flachen Hut in ihrer Mitte ganz untertänig und ergeben sind. Das ist doch nicht Vasco da Gama?“ Herbert kann es immer noch nicht fassen. „Ja, Fremder. Ein mutiger und weiser Mann, sonst hätte er den Weg nach Indien nicht gefunden. Seine Weitsichtigkeit beschert uns hier schöne und feine Tücher und auch viele neue und exotische Gewürze“, erklärt der Anführer. „Heinrich der Seefahrer förderte Vasco da Gama. Es ist selten, dass jemand so erfahren und abenteuerlich genug ist, um neue Länder zu entdecken. Schaut, jetzt kommt er näher! Ich werde für Euch um Audienz bitten.“

*

„Schau mal, wie gefällt dir das Tuch?“ Herbert reagiert nicht.

„Du wirkst so abwesend! Ist was?“, meint Clara und schaut ihn irritiert an.

„Nein, nein, Clara, es ist nichts. Ich war nur in Gedanken. Ja, das Seidentuch gefällt mir, das Orange ist so kräftig und freundlich … Wir könnten es vor unser Fenster hängen, damit Vasco da Gama sieht, dass man es von ihm gekauft hat“, murmelt Herbert noch immer gedankenverloren.

Was ist denn heute mit ihm los?, denkt Clara.

Bald kommen sie an einen Stand, an dem unterschiedliche Figuren ausgestellt sind. Er ist um einiges größer als die anderen. Durch ein mit Tüchern verhängtes Gestell gelangt man in einen kleinen Innenhof, der durch die Zelte wie ein Atrium gestaltet ist. Überall stehen Tiere, abstrakte Skulpturen, aber auch afrikanische Büsten, teilweise aus Holz geschnitzt, vielfach in Plastik oder Plüsch nachgebildet. „Afrika-Shop“ steht in großen Lettern über dem Eingang. Sie gehen hinein. Herbert bleibt mit seinem Blick an einer Büste aus dem Volk der Yoruba hängen. Er betrachtet den Ausdruck, die Weisheit und Stärke, und erinnert sich an den damaligen Handel mit Afrika. Wie die Nationen der nördlichen Hemisphäre die Völker und Kultur des afrikanischen Kontinents ausgebeutet haben, wie sie mit ihren Kriegen Menschen verschleppt und versklavt haben. Jahrhunderte und Jahrtausende waren Menschen Handelsgut, das war bereits bei den Sumerern in Mesopotamien vor 4000 Jahren so. Erst seit kurzer Zeit, gerade einmal 150 Jahre ist es her, dass der Sklavenhandel aufgehoben wurde.

Wieso nennt sich der moderne Mensch Homo Sapiens, wenn er seinesgleichen als Ware behandelt? Was unterscheidet ihn von Barbaren?, denkt Herbert. Wieso Sapiens? Wo ist die Weisheit, das Kluge, das Verständnisvolle? Herbert wühlt diese Frage innerlich auf, immer noch sucht er die Antwort, wieso der Mensch weiterhin so verachtend mit der eigenen Spezies und seiner Umgebung umgeht. Wieso töten Menschen Elefanten, nur um ihre Stoßzähne zu Figuren zu verarbeiten, die auf den internationalen Schwarzmärkten zu hohen Preisen gehandelt werden? Wieso werden Tiere in Versuchen gequält, um eine Medizin zu erzeugen, die auf den Weltmärkten teuer verkauft wird? Wieso müssen Menschen in ärmeren Ländern ihr Leben unter unwürdigen Bedingungen bei der Produktion von Gütern fristen, damit diese in den westlichen Ländern billigst gekauft werden können? Wie weit ist das vom Sklavenhandel entfernt? Ist nicht der internationale Handel und das Profitstreben Quelle allen Übels?

So in Gedanken versunken sticht Herbert an einem benachbarten Stand plötzlich die Reproduktion eines Gemäldes ins Auge: „Der Römische Sklavenmarkt“. Rodolphe Boulanger hatte das Bild 1882 in Paris gemalt und es zeigt eine Szene, in der die Scham der Sklaven der Lässigkeit des Versteigerers gegenübergestellt ist und die so den ethischen Widerspruch besonders stark hervorhebt.

*

„Geboten sind 1200 Denar für Mokabi. Wer bietet mehr?“, schreit der Auktionator auf dem Bild, ein etwa 60 Jahre alter untersetzter Mann, der einen Lorbeerkranz auf seinem Kopf trägt. Mit einer gelben Tunika bekleidet steht er lässig auf dem Podium. Versteigert werden sieben junge Menschen von Kindesalter an. Alle haben sie ein Schild umgehängt, das ihre Eigenschaften bewirbt. Der Auktionator deutet auf eine Person, die sich an eine weiße Mauer aus großen Sandsteinquadern lehnt. Das muss Mokabi sein, weil alle Teilnehmer der Auktion diesen Jüngling ansehen. Er ist etwa 1,80 Meter groß, athletisch gebaut und hat eine hellere Hautfarbe. Neben ihm eine junge Schwarzafrikanerin, die voller Scham zur Seite blickt. Ihr Oberkörper ist unbekleidet und mit Händen und Armen verdeckt sie ihre Brüste. Nur ab der Hüfte trägt sie ein langes, feines, zum Schal gebundenes Tuch. Ein weißer Junge im Alter von vielleicht sechs Jahren steht in vorderer Reihe neben dem Auktionator, er ist völlig nackt und schaut zu Boden.

Der Auktionator ruft in die Menge: „Mokabi ist 20 Jahre alt, gesund, sehr stark und gewandt. Er stammt aus gutem Hause!“

Mokabi wirkt in der Tat durch seinen erhabenen Gesichtsausdruck und die verschränkten Arme stolz und selbstbewusst. Sein Oberkörper ist unbekleidet. Um die Hüfte trägt er einen breiten schwarzen Ledergürtel, der mit Eiseneinlagen kunstvoll verziert ist. Daran sind hellblaue Tücher befestigt, die bis zum Boden reichen und seinen gesamten Unterkörper bedecken.

Es wird offensichtlich ein Edelsklave versteigert: In der Regel haben Sklaven einen Preis von 200 bis 1000 Denar, Mokabi hatte der Auktionator bereits zu Beginn auf 1200 Denar gesetzt.

„Wer bietet mehr?“, schreit er ins Publikum.

„Wer bietet mehr?“, ruft er nochmals in die Menge und beeilt sich zu wiederholen: „Mokabi kommt aus feinem Hause. Er ist zu schade, um im Stall oder auf dem Feld eingesetzt zu werden. Er kann euch im Atrium sehr nützlich sein, wenn ihr edle Gäste bewirtet.“

„Wer bietet mehr als 1200 Denar?“

„1300!“, erschallt es aus der vorderen Reihe vor dem Podium. Der Mann trägt eine reich verzierte Toga. Sein Ausdruck ist selbstsicher, er genießt offensichtlich hohes Ansehen.

„1300 Denar sind geboten. Wer bietet mehr?“, schreit der Auktionator, „der kleine Junge neben mir wird als Zugabe mitgegeben.“

„1400!“, ruft ein Teilnehmer aus den hinteren Reihen und streckt seine Hand empor.

*

„Herbert! Du bist wieder so abwesend! Was hältst du von dieser afrikanischen Figur? Was würdest du dafür zahlen?“, fragt Clara.

„Keine zehn Denar!“, sagt Herbert.