Die nachfolgende Geschichte ist noch entstanden, als es noch keine Navis gab, das man über ein Smartphone mitträgt und das einem über die GPS-Daten zeigt, wo man ist. Durch diese technischen Möglichkeiten verlieren wir die Faszination und das Abenteuer der Wegsuche in freier Natur allein nach den eigenen Erfahrungen und dem eigenen Gefühl. So gut die technischen Neuerungen sind, so schlecht ist es, dass wir uns dadurch immer mehr von den Grundlagen und Wurzeln der Natur entfernen. Wir geben also Fähigkeiten auf, die wir in uns haben und die wir seit Jahrtausenden immer mer verbessert haben, die wir aber nicht mehr verwenden. Es ist schwerlich abzusehen, was die Entfremdung von der Natur mit uns macht.

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 Ein Winter im Spätfrühling

Es ist Ende Mai. Ich schaue aus dem Fenster und sehe nur zwei Farben – eintönig grauer Himmel und dichtes und kräftiges Grün der frühlingshaft jungen Bäume, dem aber bei dem matten Licht der Glanz fehlt. Seit drei Tagen regnet es unaufhörlich. In einigen Tagen werden wir in den Nachrichten lesen, dass es sich um eine Regenperiode handelt, die historische Wasserstände bringt. Gut, dass ich das jetzt noch nicht weiß.

Vor drei Wochen habe ich mit meiner Lebensgefährtin Daniela und meinem Sohn Rainer eine Bergtour geplant. Wir haben den Termin extra erst auf Ende Mai gelegt, weil hier auch schon in den Bergen Frühling ist. Von Garmisch-Partenkirchen durch das Reintal sollte es gehen – mit einer Übernachtung auf der Reintalangerhütte – und dann auf die Zugspitze. Ende Mai ist auch in den höheren Lagen der Schnee schon weitgehend weggeschmolzen. Wir sind von großem Ansturm ausgegangen und haben uns frühzeitig einen Schlafplatz auf der Reintalangerhütte gesichert.

Am nächsten Morgen ist so weit, wir starten in Garmisch-Partenkirchen am Skistadion. Es regnet ohne Unterbrechung und es ist kalt. 5 Grad Celsius zeigt das Thermometer hier im Tal – und das Ende Mai! Vorsorglich hatten wir die Winterausrüstung eingepackt.

Wir lassen uns nicht entmutigen, ziehen unsere warme Kleidung an, verstauen die Schneeschuhe auf unseren Rucksäcken und klappen die Regenschirme auf. Wir sind eingepackt wie eine Schnecke in ihrem Haus.

Der Weg ist leicht, aber lang. Wir unterhalten uns und sind glücklich, dass wir losgegangen sind. Nach gut fünf Stunden kommen wir an der Reintalangerhütte an, es schneit. Die Wirtsleute sind glücklich, dass wir gekommen sind und nicht wie alle anderen abgesagt haben. Wir sind die einzigen Gäste.

Nach einem schönen Spieleabend besprechen wir uns am nächsten Morgen. Es schneit noch immer, die Wolken hängen tief. Daniela weigert sich, weiterzugehen. Sie will zurückgehen und heimfahren. Rainer und ich haben uns aber entschieden, zumindest zu der um 700 m höher gelegenen Knorrhütte zu gehen. Wir trennen uns von Daniela und starten nach oben. Bald wird der Schnee tiefer und wir legen die Schneeschuhe an. Wir kommen jetzt in die Wolken. Diese werden immer dichter. Die Sichtweise beträgt gerade mal 20 oder 30 Meter. Ich gehe vor. Ein Weg ist nicht sichtbar und auch keine Markierung, so dass ich auf mein Gefühl, auf meine innere Navigation angewiesen bin, um den rechten Weg zu finden. Jeder Schritt in dem tiefen Schnee ist beschwerlich.

Es ist hell, die Augen sind geblendet. Kräftiger Wind weht uns den Schnee ins Gesicht und in die Augen. Man sieht keine Erhebung oder Vertiefung im Schnee. Der Blick zum Boden und zum Himmel unterscheiden sich nicht. Keine Konturen, keine erkennbaren Strukturen – nichts, nur weiß. In jede kleine Vertiefung stolpert man hinein. Man muss den Berg spüren. In einer solchen Situation ist man eins mit dem Berg, mit der Natur verschmolzen.

Jetzt sind wir seit über zwei Stunden unterwegs. Ich habe ein gutes Gefühl, dass wir richtig sind. Wir gehen weiter, es ist anstrengend. Trotz der Schneeschuhe sinke ich bis zu den Knien in den Neuschnee ein. Jeder Schritt verzehrt Kräfte, aber ich verspüre noch immer viel Kraft in mir. Immer wieder öffnet sich etwas der Nebel und man hat dann für kurze Zeit eine Sichtweite von vielleicht mal 100 Meter. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir richtig sind. Müssen wir mehr nach links? Oder sollten wir besser geradeaus hinauf gehen? Oder sollten wir mehr nach rechts gehen? Wenn wir die Knorrhütte nicht in einer Entfernung von maximal 100 m treffen, gehen wir daran vorbei ohne es zu merken. Dann bliebe uns nur noch der Rückweg auf unseren Spuren, die allerdings durch den ständigen Neuschnee und die starken Schneeverwehungen in kurzer Zeit verschwunden sind. Ich hole die Karte heraus, wische ständig den herabfallenden Schnee weg und versuche, das innere Bild des zurückgelegten Weges mit der Karte abzugleichen.

Unsicherheit bleibt. Sollten wir nicht besser umkehren? Nein, noch nicht! Wir gehen weiter und ich entscheide mich für den Weg eher nach rechts. Zur Hütte kann es nicht mehr weit sein. Wir sind stark konzentriert, irgendwelche Zeichen zu sehen, die uns die Entscheidung erleichtern, die uns zeigen, ob wir richtig oder falsch sind.

Als sich der Nebel kurzzeitig wieder etwas lichtet sehe ich 50 m über uns eine Stange aus dem Boden ragen. Das muss eine Orientierungsstange für den Weg sein. Wir sind also zu tief.

Auf einer langgezogenen und hervorstehenden Felsnase klettern wir hinauf. Der Hang ist steil und wir steigen auf allen Vieren auf. Die vom starken Seitenwind mitgerissenen Eiskristalle bohren sich wie Nadelstiche in unsere Wangen. Die Schneeschuhe krallen sich in Fels und Schnee ein.

An der Stange angekommen sehen wir, dass hier große Felsen liegen. Mein inneres Gefühl macht einen Luftsprung. Wenn hier so große Felsen liegen, dann bedeutet dies, dass unweit von hier Felswände sind, aus denen diese herausgebrochen sind.

Ich weiß, dass sich rechts hinter der Knorrhütte hohe Felswände befinden. Da die Felsen hier liegen geblieben sind, bedeutet dies, dass sie bereits an Geschwindigkeit verloren hatten und wir uns auf einer Hochebene befinden müssen. Auf einer solchen Hochfläche steht die Knorrhütte, wie ich auf der Karte gesehen habe. Ich folge der Richtung, von der die Felsen offensichtlich gekommen sind. Jeder Schritt im tiefen Schnee ist eine Herausforderung. Ich sehe gar nichts, nur weiß, aber ich merke, dass wir uns also tatsächlich auf einer Hochfläche befinden. Nach 15 Minuten lichtet sich wieder etwas der Nebel und plötzlich nehme ich im absoluten Weiß unscharfe Konturen eines fast unmerklich dunkleren Flecks wahr. Ich gehe auf diesen Fleck zu. Dieser wird dunkler und kontrastreicher, je näher wir hinkommen – und tatsächlich: es ist die Knorrhütte. Geschafft!