Mit der nachfolgenden Geschichte erzähle ich ein Erlebnis in den Bergen, bei dem ich mich vollständig verausgabt habe. Sie handelt von Grenzerfahrungen und beschreibt, dass es besser ist, bei der Planung Puffer einzubauen, denn nicht immer läuft ein Projekt dann so ab, wie man es geplant hat.

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Am Limit

Wir, mein Freund Erich, mit dem ich schon seit vielen Jahren in den Bergen unterwegs war, und ich schaukelten uns gegenseitig mit den möglichen Zielen auf. Was konnten wir sportlich unternehmen, d.h., wie gut waren wir? Was ist ein Ziel, bei dem es sich lohnt, große Mühen zu erbringen?

Bei unseren regelmäßigen Bergtouren auf viele 4000er in der Schweiz haben wir immer wieder solche Überlegungen angestellt. Wir wollten stets neue Herausforderungen. Wir studierten die Kataloge von Reiseanbietern, die durch Berufsbergführer geführte Hochtouren anbieten. Plötzlich war es soweit – wir wussten nun, was wir wollen. Denn es fiel uns ein Angebot ins Auge, nämlich in einer Woche die jeweils höchsten Berge in Italien, in Frankreich und in der Schweiz zu besteigen. Das klang doch gut. Das sind der Grand Paradiso in Italien mit einer Höhe von 4.061 m, der Mont Blanc in Frankreich mit einer Höhe von 4.810 m – gleichzeitig der höchste in Europa –  und die Dufourspitze im Wallis in der Schweiz mit einer Höhe von 4.633 m. Für jeden Berg sah das Programm zwei Tage vor  – für die Anreise, für den Aufstieg zur Hütte, von der aus wir starten, für die Gipfelbesteigung und für den Abstieg zu unserer Unterkunft. Wir waren konditionell gut vorbereitet. Die Teilnehmerzahl war auf fünf begrenzt. Ich war jetzt 42 Jahre alt. Erich war 33 Jahre alt.

Diese Woche sollte eine wichtige Grenzerfahrung für mein gesamtes weiteres Leben werden. Denn geschafft habe ich das gesetzte Ziel nur mit einem unendlich starken Willen, nicht aufgeben zu wollen. Im Rückblick habe ich dadurch gelernt, Ziele vorsichtiger anzugehen und vor allem bei der Planung nicht davon auszugehen, dass alles glatt läuft, sondern dass man Puffer einbaut für nicht eingeplante Schwierigkeiten. Zu leicht geht man sonst Risiken ein, weil nicht immer alles so läuft, wie es laufen sollte.

Ich bereitete mich gut auf diese Woche vor. Ich war körperlich fit, legte aber noch ein paar Trainingseinheiten zusätzlich ein, denn das Ziel war eine Herausforderung, ein Superlativ. Bald waren es nur noch wenige Tage bis zum Start am Sonntag früh, nämlich in ein Seitental des Aostatals zu fahren, wo wir den Bergführer und die anderen Bergkameraden treffen würden, mit denen wir die Woche verbringen wollten. Alles schien programmmäßig abzulaufen. Die Trainingseinheiten waren wohl ausreichend. Die Arbeitswoche war gut und ich war viel in Gedanken bei dem, was in der folgenden Woche mich so alles erwarten würde. Jetzt war es Samstag, die Arbeit war getan, es war herrliches Wetter in München und ich traf mittags einen Freund in der Waldwirtschaft in Großhesselohe, einem schönen Biergarten bei München. Ich saß am Biertisch mit meinem kurzärmligen Hemd und stützte mich mit meinen Ellenbogen auf den Tisch auf. Ich merkte, dass mein linker Arm auf sehr weichem Untergrund war. Es dauerte eine Weile, um festzustellen, dass nicht der Tisch weich war, sondern mein Ellenbogengelenk sehr stark geschwollen war. Anfangs machte ich mir dazu wenig Gedanken, denn ich spürte ja nichts. Aber das Weiche wurde größer und größer.

Mein Freund meinte, ich solle das nicht auf die leichte Schulter nehmen und lieber noch schnell in die Notaufnahme einer Klinik fahren, um mir das ansehen zu lassen. Ich hatte eigentlich keine Lust dazu, zu sehr war ich in Hochstimmung, in wenigen Stunden ins Aostatal zu unserem Start in die lang geplante und vorbereitete Woche zu fahren. Aber die Vernunft war noch da und so machte ich das. Ich fuhr zur Notaufnahme in die Großhaderner Klinik und wartete erst mal drei Stunden… Zweitvergeudung!, wie ich das empfand. Dann kam eine junge Ärztin und schaute sich meinen Ellenbogen an. Schleimbeutelentzündung war die Diagnose und mehrere Tage Ruhe die ärztliche Verordnung. Aber das ging nicht, ich war ja eigentlich schon unterwegs, gar nicht mehr hier in München. Ich wollte nicht wahrhaben, was ich gehört habe.

Ich erzählte mein Problem dieser Ärztin und alles, was ich vorhabe, wie ich mich vorbereitet habe, wie sehr ich mich jetzt nach dem Start sehne und wie sehr ich diese Woche auch brauche, weil ich einen harten Job mache und ich diese Woche nicht einfach auf einen anderen Termin verschieben könne. Am Samstag Nachmittag haben nur die jungen Nachwuchsärzte Dienst in der Notaufnahme in einem Krankenhaus. Die älteren und erfahrenen Ärzte sind schon eine Stufe weiter und jedenfalls hier in der Notaufnahme bei den alltäglichen Dingen nicht sichtbar. Das war mein Glück oder Pech, je nachdem von welcher Warte man aus das betrachtet. Die junge Ärztin schien sehr sportlich zu sein und hatte offensichtlich Mitleid mit meiner Situation. Ich sagte ihr, ich will nicht von ihr hören, was vernünftig ist, sondern was sie selbst machen würde, wenn sie in meiner Lage wäre. Denn ich weiß aus meiner eigenen beruflichen Tätigkeit, dass man bei der Beratung Anderer einen sehr strengen Maßstab ansetzt, aber bei der eigenen Handlung die Risiken anders bewertet. Denn da ist man nicht Anderen gegenüber verantwortlich.

Die Ärztin hat meine Botschaft verstanden. Sie erzählte mir nun, dass die Schleimbeutelentzündung derzeit noch kein Problem sei, weil das angesammelte Wasser im Gelenk, das sie abgesaugt hat, während wir geredet haben, noch sehr klar ist. Sie sagte aber auch, dass sich das Problem schnell ändern würde, wenn die angestaute Flüssigkeit milchig würde. Dies würde dann auch schmerzhaft sein. Deshalb müsse ich meine Reise absagen.

Ich wollte mich damit nicht zufriedengeben und fragte nach, wie lange ich dann, wenn die Schmerzen kämen, noch Zeit hätte. Sie meinte, innerhalb von 24 Stunden müsste dann die Flüssigkeit erneut abgesaugt werden, andernfalls das Gelenk Schaden nehmen würde und auch die Gefahr einer Blutvergiftung bestünde. ….. Das war die Lösung, wie ich ihr sagte, nämlich dass ich zu jeder Zeit innerhalb von 24 Stunden in einem Krankenhaus sein könnte, selbst wenn ich vom Mont Blanc absteigen müsste. Da die Ärztin einsah, mich nicht von meiner Planung abhalten zu können, verlief das weitere Gespräch dahin, wie ich die Risiken minimieren könne und worauf ich zu achten hätte. Ich sollte besonders darauf achten, dass das Gelenk ruhiggestellt und ein Druckverband angelegt ist. Sie machte mir noch eine Schlinge, in der ich beim Bergsteigen den Arm in der richtigen Neigung in dieser Schlinge deponieren kann, so dass das Gelenk in diese Stellung am besten platziert ist. Das genügte mir und ich war wieder in Hochstimmung, am Morgen zu starten.

Am nächsten Tag fuhr ich mit Erich ins Aostatals und in einem Seitental trafen wir uns mit dem Bergführer und den anderen Teilnehmern, die ebenso wie wir diese Woche gebucht hatten. Und wir hatten Glück, das Wetter war herrlich und der Wetterbericht sagte für die ganze Woche ein stabiles Wetter voraus. Ohne stabilem Wetter wäre die Zielerreichung gar nicht möglich gewesen.

Wir stiegen auf die Chabod Hütte auf 2.750 m auf. Ich hatte meinen linken Arm in der Schlinge und spürte ihn nicht. Der Aufstieg war leicht und dauert nur etwa zweieinhalb Stunden. Wir hatten hier schon die erste Einstimmung auf das, was die Woche von uns fordern würde. Denn der Bergführer ging schnell nach oben – bewusst und gewollt, wie er später sagte, um zu testen, welche Kondition die angemeldeten Teilnehmer mitbringen. Ein Teilnehmer hatte hier erhebliche Schwierigkeiten, das Tempo über die Zeit von zweieinhalb Stunden mit dem schweren Gepäck mithalten zu können. Der Bergführer redete mit ihm am Abend und sagte ihm, er könne ihn die Woche nicht mitnehmen. Das sei zu anstrengend und auch zu gefährlich für ihn. Er würde es nicht schaffen. Nach einer gewissen Zeit war der Teilnehmer verständig und er vereinbarte mit dem Bergführer, dass er am nächsten Tag absteigt und nach Hause fährt.

Am nächsten Tag um 5 Uhr war gemeinsames Wecken. Der konditionell schwache Teilnehmer stieg ins Tal ab und der Rest der Gruppe stieg zum Gipfel hinauf. Wir waren jetzt vier Teilnehmer plus Bergführer. Der Grand Paradiso ist ein leichter 4000er, wobei der Aufstieg über eine Höhe von 1400 Meter in dünner Luft mit voller Ausrüstung über das Eis schon eine Herausforderung war. Aber wir wollten dies und hatten ja Größeres vor und diese Tour war eher zur Anpassung an die Höhe und zum Eingehen gedacht. Wir kamen mit vollen Kraftreserven am Gipfel an und wir freuten uns schon darauf, dass wir unser gestecktes Wochenziel gut und sicher erreichen würden.

Ein erstes Anzeichen von dem, was uns erwarten wird, haben wir hier erlebt aber nicht bewusst wahrgenommen. Denn auf dem Gipfel des Grand Paradiso steht eine Madonna, zu der alle Bergsteiger wollten. In Italien stehen auf den besonderen Gipfeln keine Gipfelkreuze, sondern Marienmadonnen. Der Zustieg zum eigentlichen Gipfel des Grand Paradiso ist nur etwa 10 bis 15 Meter über einen schmalen Felsen. Aber weil wegen der guten Witterung Massen an Bergsteigern unterwegs waren, war es gar nicht so leicht, noch eine Zustiegsmöglichkeit zur Madonna zu finden, um sie anzufassen. ……

Jetzt war die Anreise zum Ausgangspunkt für den Mont Blanc an der Reihe. Wir stiegen ab und fuhren nach Chamonix, um dort zu übernachten.

Von Chamonix aus fuhren wir am nächsten Tag mit der Seilbahn zur Mittelstation und gingen zunächst über einen sehr zerklüfteten Gletscher auf blankem Eis zwischen den jeweiligen Gletscherspalten hinauf zur Grands Mulets Hütte. Diese steht auf einem schmalen Felsgipfel mitten im Gletschergebiet auf einer Höhe von 3051 m. Der Weg, vor allem im letzten Anstieg zur Hütte war sehr mühsam. Wir waren aber immer noch in vollen Kräften und kamen gut an der Hütte an. Mein Arm machte mir keine Schwierigkeiten, aber ich schonte ihn.

Jetzt sollte ich wiederum erfahren, was es bedeutet, sich hohe Ziele zu stecken, die man nur erreichen kann, wenn alles völlig glatt läuft. Die Grand Mulets Hütte ist, da wenig Platz auf dem Felsen im Gletscher ist, nicht besonders groß und sehr viele Bergsteiger hatten jetzt das gleiche Ziel, nämlich den Mont Blanc zu besteigen. Denn die Wetterlage war optimal und es gibt im Sommer nicht allzu viele Tage, bei denen diese Idealbedingungen vorherrschten, wie es in dieser Woche der Fall war. Deshalb haben sich offensichtlich viele Bergsteiger kurzerhand entschlossen, jetzt die Besteigung des Mont Blancs zu wagen.

Die Hütte war voll wie eine Autobahngaststätte zur besten Reisezeit. Aber jeder sollte auch einen Schlafplatz bekommen. Also teilte man die verfügbare Fläche im Lager durch die Anzahl der Personen. Was herauskam war gerade ein Platz, der so groß war, wie der eigene Körper, wenn man ihn klein macht. Links und rechts lag der Nachbar halb auf mir. Ich kam mir vor wie die Ratten, die oftmals übereinander liegen. Denen mag das vielleicht gefallen, mir hat es ganz und gar nicht gefallen.

Um 22:00 Uhr war dann Hüttenruhe. Allgemeines Wecken war dann um 1:00 Uhr. Wir hatten also gerade mal drei Stunden Zeit zum Schlafen. Aber diese drei Stunden waren eine Tortour. Denn ein Umdrehen war praktisch nur möglich, wenn sich die ganze Reihe umdreht. Welche eine Erlösung war es dann, als um 1 Uhr das Licht anging und man wieder etwas Luft zum Atmen bekommen hat.

Nach einem Frühstück und nach dem Anlegen der Ausrüstung, nämlich von Steigeisen, Gurte, Seile, Helm und Stirnlampe ging es dann gemeinsam um 2 Uhr los. Es war eine herrliche Nacht unter einem atemberaubenden Sternenhimmel, weil die Sicht auf die Sterne durch keinerlei Streulicht gedämpft war und wir uns auf mehr als 3.000 Meter Höhe befanden, wo die Luft schon sehr dünn ist und den Blick auf die Sterne wenig schmälert. Um nicht durch das eigene Licht der Stirnlampe ein Streulicht zu erzeugen, bin ich ohne Licht gegangen. Die Augen gewöhnen sich schnell an diese Dunkelheit und die Milchstraße erzeugt genügend Licht, das zudem in dem weißen Schnee und Eis gut reflektiert. Außerdem ging vorne unser Bergführer und der hatte seine Stirnlampe an. Dieses Wegstück war zudem wenig gefährlich, weil der Gletscher hier nur floss und kaum Abbrüche hatte.

Dieses Hochgefühl, durch die sternenklare Nacht über endlos weite Gletscher am Seil zu gehen, hielt nur kurz an. Denn nun übermannte mich mit voller Kraft die Müdigkeit. Das monotone Gehen über Serpentinen den Gletscher hinauf tat sein übriges. Ich muss hier beim Gehen eingeschlafen sein, denn als wir eine erste Pause machten fehlte mir eine Stunde im Bewusstsein. Es war für mich eine bedeutende Grenzerfahrung, wozu denn der eigene Körper fähig ist, wenn er am Limit, hier am Schlaflimit ist. Ich war nun gut ausgeschlafen, soweit man hier überhaupt den Begriff des Ausgeschlafenseins gebrauchen kann. Zumindest war die bleierne Müdigkeit nicht mehr vorhanden und es war ein emotionaler Hochgenuss, als ich merkte, dass die totale Dunkelheit, die nur durch die Sterne der Milchstraße Licht erhielt, langsam verschwand.

Es begann zu dämmern. Zunehmend wurde es heller …. und ….. plötzlich kam der erste zarte Strahl des Lichts der Sonne über die weiten Eisfelder des Gletschers. Eine unendlich große Freude überkam mich, die Geburt eines Tages hoch am kalten wie auch einsamen Berg hautnah mitzuerleben. Man erkennt, wie sich Licht und Dunkel als Feinde gegenüberstehen und am Ende das Licht das Dunkel besiegt. Siegesgefühle wurden in mir wach. Nicht nur das Licht – auch ich habe die Nacht, das Dunkle besiegt.

Wir gingen weiter und jetzt zeigte sich die Sonne vollständig in ihrem jungen Kleid –  und plötzlich war es wieder da – das Gefühl, viel zu wenig geschlafen zu haben. Die dünne Luft tat ihr Übriges, mir das Aufsteigen schwer zu machen. Wir waren nunmehr auf einer Höhe von etwa 4000 Meter und wer schon einmal auf dieser Höhe war, der weiß, wie viel allein die dünne Luft von der Kondition wegnimmt. Ich fühlte mich wie ein Sieb, aus dem aus allen Poren die Kraft und Kondition durchläuft, in den Schnee tropft und dort versickert. Aber es sollte noch schlimmer werden, denn es waren ja immer noch etwa 800 Höhenmeter bis zum Gipfel und mit jedem Meter wurde die Luft dünner. Ich dachte mit Schrecken an diese 800 Höhenmeter, die auf dieser Höhe so viel Kraft benötigt wie ihm Tal 1500 Höhenmeter.

Bald kamen wir etwa 300 bis 400 Höhenmeter unter dem Gipfel des Mont Blanc zu einer Notunterkunft. Diese Notunterkunft hat weder Fenster noch Türen. Sie kann nur von unten über eine schmale Leiter bestiegen werden. Nur so bietet die Hütte optimalen Schutz vor den Widrigkeiten des Wetters in dieser Höhenlage mit seiner oftmals brutalen Kälte und besonders bei Schneestürmen. Hier machten wir Pause. Meine Kraft war nahezu vollständig aufgebraucht. Ich nutzte das Sitzen zur Regeneration und nur am Rande bemerkte ich die nicht angenehmen Gerüche, denn der Luftaustausch ist nach unten sehr begrenzt und die Notunterkunft wird von vielen Bergsteigern genutzt, die teilweise hier auch übernachten. Zum Essen und zum Reden hatte ich kaum mehr Kraft. Jede Handbewegung und allein das Öffnen des Rucksacks machten mir Schwierigkeiten und brachten mich aus der notwendigen Ruhe. Ich saß wie versteinert auf einer Schlafbank. „Günter, warum bist Du so schwach?“ habe ich mich selbst gefragt. „Du hast doch genügend trainiert!“ beruhigte ich mich. Oder hatte mich vielleicht doch die Schleimbeutelentzündung etwas geschwächt, obwohl ich noch immer keine Schmerzen verspürte? Ich wusste nicht was los war, aber ich wusste, dass ich vollständig kraftlos war.

Der Bergführer und meine Bergfreunde sahen, dass ich am Limit war. „Günter, Du schaffst es, wir bleiben noch ein paar Minuten hier, so dass Du Dich noch ausruhen kannst.“ sagte mein Freund Erich zu mir. „Es sind ja nur noch ein paar hundert Höhenmeter bis zum Gipfel.“, fügte er hinzu. Er wollte mir Mut machen. Mehr können Bergkameraden in dieser Situation nicht tun. Mein Wille war noch stark genug, um weiterzugehen. Eigentlich war nur noch der Wille das Einzige, was stark war.

Ich ging jetzt in der Seilschaft direkt hinter dem Bergführer, weil dieser, wie er meinte, dann ein besseres Gespür für mich habe. Wir gingen weiter und kamen nun bald auf den Bosses Grad. Dieser Grad ist sehr schmal und gerade mal 40 oder 50 cm breit. Links und rechts geht es steil über Eishänge hinunter und wer hier herunterrutscht hat kaum eine Überlebenschance, weil er entweder an einen der Felsen knallt oder dann unten in eine Gletscherspalte rutscht. Und würde man auf einer Seite abrutschen, würde man alle anderen Seilmitglieder in Gefahr bringen.

Immer wieder sind hier ganze Seilschaften tödlich abgestürzt. Hinzu kommt, dass an diesem Grad ein sehr starker Wind weht, weil es der einzige Durchgang ist, den der Wind nehmen kann und er hier schneller werden muss, um die Luftmassen durchzubringen. Bei dieser Windstärke muss man auf diesem schmalen Grad ganz besonders aufpassen, dass man nicht die Balance verliert. Ich habe meine gesamte mentale Kraft zusammengekramt, um alles richtig zu machen. Ich wollte keinen der Bergkameraden gefährden. Außerdem war ich auch für die anderen verantwortlich, damit ich in Sekundenschnelle seinen Sturz auffangen kann, wenn ein anderer das Gleichgewicht verliert. In einer Seilschaft ist jeder für jeden verantwortlich. Ich war so stark konzentriert, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass mir der starke Wind die Mütze vom Kopf gerissen hat – und dies trotz einer Kälte von mehr als minus 10 Grad Celsius. Die Mütze war weg, aber ich hatte noch die Kapuze meines Anoraks. Ich hatte auf dem Bossis Grad auch nicht bemerkt, dass ich eigentlich gar keine Kraft mehr hatte, so konzentriert war ich auf den Weg.

Wir waren jetzt auf einer Höhe von 4500 Meter und es waren nur noch ca. 300 Höhenmeter zum Gipfel. Und der schlimmste Teil über den Bosses-Grad war geschafft. Der Weg war nun wieder einfach, aber die Luft war bereits wieder ein gutes Stück dünner. Jetzt waren meine Kräfte am Ende. Immer wieder stellte ich fest, dass das Seil vorne zog, weil ich zu langsam ging. Der Bergführer schaute um und sah, dass ich noch auf den Beinen war. Das war für ihn ein gutes Zeichen, also ging er zügig weiter. Zunächst versuchte ich noch, mit eisernem Willen auf den Beinen zu bleiben. Aber irgendwann schien auch dieser Wille zu erlahmen und ich sah mich schon im Geiste, wie ich einfach umfiel und meine Seilpartner dann ein Problem mit mir hatten. Ich strengte meinen Willen noch mehr an und noch mehr …. Aber da war keine Kraft mehr für den Willen … der Tank war leer.

Und plötzlich … das erste Erlebnis dieser Art in meinem Leben ….. hatte ich das Gefühl, dass hier irgendwo in mir eine Schleuse aufmacht und über diesen Weg viel, sehr viel Energie in mich hineinströmt. Sie war wieder da, die Kraft in mir – sehr viel Kraft. Woher kam diese Kraft?, fragte ich mich. Plötzlich sah ich wieder das Tageslicht in seiner vollen Stärke, das ich vorher nur gedämpft, wie bei starkem Nebel wahrnahm. Plötzlich hatte ich wieder Freude am Gehen, das mir nicht mehr schwer fiel. Plötzlich fühlte ich mich in der Seilschaft wieder wohl und so etwas wie Liebe zu den Freunden machte sich breit. Und plötzlich floss ein breiter Strom von Wärme in mich hinein. Jetzt sah ich, dass wir uns schon fast auf dem höchsten Dach Europas befanden – auf fast 4800 Meter Höhe. Und ich sah die hohen und majestätischen Drei- und Viertausender, die allesamt nur noch unter uns lagen. Es machte sich eine Hochstimmung in mir breit. Ich wusste nicht, wie mir geschieht.

Mit dieser Kraft ging ich hinauf und sah am Wegesrand vielfach die Hinterlassenschaften von meinen Vorgängern, nämlich die Flecken, wo sich diese übergeben hatten. Ich war stolz auf mich, dass ich es so geschafft habe. …